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Geburtskultur und Ge­sund­heits­sy­stem

Geburt nach archaischen Prinzipien inmitten hochtechnisierter Industriegesellschaft

1. Das Gesundheitssystem
2. Selbstverwaltung im Gesundheitswesen
3. Das Dach: „Liberalisiertes Gesundheitssystem“
4. Warum die naturgemäße Geburt nicht in das klinische Gesundheitssystem passt
5. Grundsatzerklärung Elterninitiativen für Geburtskultur

1. Das Gesundheitssystem
Aus einer Information der GKV, der obersten Bundesvertretung gesetzlicher Krankenkassen:
„Wer entscheidet, was zu den Leistungen der Krankenkassen in der Schwangerenvorsorge gehört und was nicht? Art und Umfang der von den Gesetzlichen Krankenkassen übernommenen Vorsorgeuntersuchungen werden vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen [G-BA] festgelegt. In diesem Gremium entscheiden Vertreter der Krankenkassen und Vertreter der niedergelassenen Ärzte zusammen und gleichberechtigt darüber, welche Maßnahmen sinnvoll, d. h. mit mehr Nutzen als Schaden verbunden sind und deshalb von den Kassen bezahlt werden.“
Da im GB-A auch Klinikvertreter mit den Krankenkassen nach demselben Prinzip verhandeln, werden im G-BA auch die Kosten für die Klinikgeburt verhandelt.

2. Selbstverwaltung im Gesundheitswesen
Seit 2007 wurde für den Hebammenberuf die „Selbstverwaltung" eingeführt. Dabei stehen zwei recht kleine Vereine Großkonzernen mit langjähriger Erfahrung gegenüber.
Die Kostenübernahme für außerklinische Geburten, Geburtshäuser und den Verdienst für Hebammen verhandelt seit der Zeit der GKV mit den Hebammenverbänden (DHV und BfHD) direkt. Mit am Tisch sitzt das Netzwerk für Geburtshäuser e. V. Dem Deutschen Fachverband des Hebammenhandwerks (DFH) wurde bisher kein Platz am Verhandlungstisch eingeräumt. 
Gesetzlich vorgeschrieben für Hebammen ist eine private Haftpflichtversicherung, bevor sie freiberuflich arbeiten dürfen. Die Hebammenverbände handeln die Höhe direkt mit der Versicherungswirtschaft und deren Finanzexperten aus.

Seit 2008 explodiert die Haftpflichtversicherung – ein Jahr nach Inkrafttreten der „Selbstverwaltung“. Versagt hier der Markt? Werden im Hintergrund Strukturen geschaffen, die auf die Abschaffung der außerklinisch geburtshilflich tätigen Hebammen abzielen? Diese Zielsetzung lag nahe, ohne dass offen erkennbar war, wer daran ein Interesse haben könnte.
7.700,00 € Haftpflichtversicherung (ab 2019 sind es ca. 10.000,00 €) soll jede Hebamme mit Geburtshilfe jährlich im Voraus bezahlen, um arbeiten zu dürfen. Das bei einem Verdienst, der im untersten Lohnbereich liegt. Ein schweres Versäumnis des Staates, der bis heute diese strukturelle Schieflage nicht korrigiert hat. Er sollte unserer Auffassung nach die Geburten versichern. Das würde Hebammen und Ärztlnnen entlasten und den Staat laut Parlamentsdebatte vom Mai 2016 gerade mal 12 Millionen Euro jährlich kosten.

3. Unter dem Dach der „Freien Marktwirtschaft“ mutiert die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zum „Liberalisierten Gesundheitssystem“

Heilen und helfen, Ideale früherer Jahrhunderte, wurde abgelöst von Angeboten des Gesundheitsmarktes, Nutzen-Schadensabwägung, Faktor Zeit, Abrechnungspauschalen. Gesundheit wurde ein Produkt, das gewinnbringend verkauft werden soll. PatientInnen sind NutzerInnen/ VerbraucherInnen/ KundInnen. Es wurden Anreize für zusätzliche Ausgaben geschaffen (z. B. Individuelle Gesundheitsleistungen, gen. IGe-L). Es geht um Umsatzsteigerung, Berechenbarkeit von Gesundheit, Krankheit, Kosten-Nutzenanalysen. Markteinheiten wurden vergrößert, Kliniken konzentriert, um Kosten zu senken. Menschen verschwinden in Statistiken unter dem Blickwinkel profitabel-unrentabel. Statt Diagnostik erfolgt Routine, statt individueller Behandlung Orientierung an Leitlinien. Das Ganze nennt sich Qualitätsmanagement (vgl. Vortrag Dr. Barbara Duden Freiburg 2016).

4. Warum die naturgemäße Geburt nicht in das klinische Gesundheitssystem passt
Geburt lässt sich nicht normieren. Die „Programmierte Geburt“ ist gescheitert. Die hohen Kaiserschnittzahlen und die Interventionsrate von über 90 % bei Klinikgeburten zeigen, dass der Prozess der Geburt von der Schulmedizin nicht als physiologischer Selbstläufer verstanden wird. Kliniker selbst sagen, dass die meisten Notfälle iatrogen d. h. Folge ärztlicher Eingriffe (Interventionen) sind. Beispielsweise führen ca. 50 % aller CTG-Messungen vor und während der Geburt zu Fehldiagnosen. Das wird offen eingestanden (DGGG 2014). In den zwei Stunden vor der Geburt zeigen 90 % der CTGs pathologische Ergebnisse. („Gegen den Trend – Wie es gelingen kann, die Kaiserschnittrate zu senken“, Broschüre des AKF 2018, S. 12) Die technischen Messungen und nachfolgenden Fehlinterpretationen haben Folgen für den Geburtsverlauf.

- Historische Altlasten überschatten immer noch das Verhältnis zwischen Hebammen und Ärzten.
(Ärztinnen sind teilweise kritisch, teilweise ambivalent in ihrer Haltung. Wir würden begrüßen, wenn Gynäkologinnen über ihren Beruf hinaus die weiblich/männliche Seite der Medaille reflektieren würden.)

Die Tatsache, dass Hebammen berechtigt sind, eine Geburt zu leiten, nicht jedoch der Arzt/Ärztin, scheint eine Kränkung des männlichen Arzt-Selbstbildes mit sich zu bringen, deren Auswüchse immer wieder in Konkurrenzen und Bekämpfung der von Hebammen verantworteten Geburt sichtbar werden. Hier wirkt aich aus, dass bei den Gynäkologenverbänden überholte patriarchale Haltungen zu überwiegen scheinen.

Doula fußbad sw Alex Lichtmalerei DSC 5600 bw Foto: Alex Lichtmalerei
- Das Geschlechterverhältnis zwischen Frauen und Männern offenbart sich im Zusammenhang mit der Geburt ungeschminkt, weil Frauen, die gebären, schutzbedürftig sind. Gleichzeitig aber sind sie löwenstark und bringen nach archaischen Prinzipien neues Leben aus sich selbst hervor. Das mag für Männer ein unbewusst geneideter biologischer Vorteil sein. Für sie scheint es schwer zu sein, den Frauen diesen biologischen Vorteil zu gönnen. Davon ganz abgesehen gibt es durch die nachgeburtliche Triaden-Konstellation zwischen Mutter, Vater und Kind genügend Themen für individuelle Rollenfindung.

- Die Schulmedizin hat es zu Meisterleistungen gebracht, was Notfallbehandlung und Rettungsmedizin betrifft. Die Gefahr besteht, dass die nur von außen zu betrachtende Geburt mit gleichem Maßstab gemessen wird. Was versteht schon ein Mann von einem vegetativ gesteuerten Befreiungsschrei, genannt kreißen? Etwas Vergleichbares gibt es bei Männern nicht. Männer geraten bei Geburten unter Handlungsdruck, weil sie selbst es schwer ertragen können, wenn sich Frauen im Grenzbereich der Geburt befinden. Das Helfenwollen, das Handelnmüssen, das Retten und Notoperierenmüssen der letzten 40 Jahre ist bei der Geburtshilfe über das Ziel weit hinausgeschossen.

- Tatsächlich versucht die männliche Medizin mithilfe von Richtlinien und Leitlinien genaue Handlungsanweisungen für die Mutterschaftsvorsorge und Geburt parat zu haben (1). Dieses Konzept muss scheitern angesichts der höchst individuellen Geburtsverläufe. Entsprechend dürftig ist die Datenlage z. B. zur Errechnung des Geburtstermins. Nach Jahrzehnten der Tabellen- und Ultraschallberechnung bleiben es konstant 4 % der Kinder die „pünktlich“ kommen. Und auch diese Bastion scheint zu bröckeln angesichts der Forschungsarbeiten der Hebammenwissenschaften.

5. Das Netzwerk Elterninitiativen formuliert seine Einschätzung der aktuellen Geburtskultur und welche Veränderungen sie fordert. 

(1) Seit Dezember 2020 existiert eine neue Leitlinie „S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin". Erstmals werden Hebammenverbände bei der Erstellung der Leitlinie angemessen beteiligt. Erstmals nach Jahrzehnten liegt eine Leitlinie mit hoher wissenschaftlicher Evidenz vor. Das ist das Verdienst von nicht nachlassender Elternkritik und Elternprotesten, Elternaufklärung und der Aktivität wissenschaftlich arbeitender Hebammen und Elternvertreterinnen.

Hier finden Sie einen Überblick über die für Eltern wichtigsten Themen der neuen Leitlinie.
 
12/2022

 

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