Mutterpass – was steht drin, und was nicht?
Analyse und Bewertung
Als ich den aktuellen Mutterpass zum ersten Mal in Händen hielt, fragte ich mich: „Wie müssen diese kleingedruckten seitenlangen Listen und Spalten auf eine werdende Mutter wirken, die den Pass ausklappt und interessiert auf sich wirken lässt?" Was kann sie damit anfangen? Was löst das in ihr aus? Sind die vielen medizinischen Fachbegriffe nicht erdrückend?
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Ich erinnere mich an Aussagen von Frauen, wie wichtig der Mutterpass für sie war, als sie ihn erstmals in Händen hielten, einerseits.
Welche emotionale Wirkung andererseits haben Wörter für werdende Mütter, wenn sie lesen, was alles schief gehen kann oder was in der Schwangerschaft alles zu überprüfen ist?
Ich war angeregt, Sprache und Begrifflichkeiten dieses 16-Seiten-Dokuments (pro Kind) zu analysieren. Alle Wörter und Satzteile listete ich alphabetisch auf. Es ergaben sich vier Kategorien von Aussagen:
1. Unterstützende, Vertrauen schaffende Wörter und Sätze
2. Eher Besorgnis erzeugende Wörter und Sätze
3. Kontrolle beinhaltende Wörter und Sätze
4. Arzt-Informationen Wörter und Satzteile an Fachpersonen gerichtet.
Liste der Wörter in 4 Kategorien - alphabetisch
1. Unterstützende, Vertrauen schaffende Wörter/Satzteile: 17
Angebotene Möglichkeit nutzen - Arzt 2 x - beraten - Berechneter Entbindungstermin - Gesunderhaltung - Hebamme - helfen - Langjährige geburtshilfliche Erfahrung - Mitbetreuende Hebamme - Moderne medizinische Erkenntnisse - Mutterpass 3 x, - Sicherheit 2 x - Sorgen (an den Arzt wenden).
2. Eher Besorgnis erzeugende Wörter/Satzteile: 112
Abwenden - Auffällige Fehlbildung - BEL - Besondere Befunde im Schwangerschaftsverlauf - Besondere psychische Belastung - Besondere psychische Belastungen (familiär oder beruflich) - Besonderheiten - Besonderheiten im Wochenbett - Besondere soziale Belastung 2 x – Biparietaler Kopfdurchmesser BPD - Blickdiagnose - Blutungen nach der 28. SSW - Blutungen vor der 28. SSW - Blutungs- Tromboseneigung - Chlamydia trachomatis - Darstellbarkeit Kleinhirn - Diabetes - Diabetes mellitus - Einstellungsanomalie - Entbindungstermin ggf. nach Verlauf korrigiert - Epikrise - Erhöhtes Risiko - Familiäre Belastung - Fehlbildungen - Frühere Bluttransfusionen - Frühere eigene schwere Erkrankungen - Gefahren - Genetische Krankheiten - Gestationdiabetes Vortest - Harnwegsinfektion - Hepatitis B - Herz - Herz/Thorax Relation - HIV-Antikörpertest - Hydramnion - Hypertonie - Hypertonie (Blutdruck über 140/90) – Hypotonie - Immunität - Indirekter Coombstest positiv - Integrationsprobleme - Isthmozervikale Insuffizienz - Kind unauffällig 2 x - Kind verlegt 2 x - Kind verstorben 2x - Kleinwuchs - Klinik -Komplikationen bei vorausgegangenen Entbindungen - Komplikationen post partum - Konturunterbrechung - Krebsfrüherkennungsuntersuchung - Leber - Mehrlingsschwangerschaft - Mittelgradige – Monochorial - Mutter hat abgestillt - Mutter hat nicht gestillt - Nachweis HBs-Antigen - Nächster Untersuchungstermin (16 Spalten) - Normkurve - schwere Ödeme - Oligohydramnie - Pathologische Befunde - Persistierende Arrhythmie - Placenta praevia - Placenta-Insuffienz - Plazentalok./-struktur 2 x - Psyche - Psychische - Rhesus-Inkompatibilität - Krankheiten - Rasche Schwangerschaftsfolge (weniger als 1 Jahr) - Ratschläge befolgen - Rechtzeitig - Regelmäßige Teilnahme - Risiken - Risiko - Risiko aus anderen serologischen Befunden - Risikoberatung - Risiko-Nr. nach Katalog B - Risikonummern - Scheitel-Steißlänge SSL - Schwangere über 35 Jahre n - Schwangere unter 18 Jahren – Schwangerschaftsrisiko - Sectio - Skelettanomalien - Terminunklarheit - Totes/ geschädigtes Kind in der Anamnese - Überwachung - Unregelmäßigkeiten - Vag. Op. - Vag. Operation - Ventrikelauffälligkeiten - Vermeiden - Voraussetzung (liegt bei der Mutter) - Vielgebärende (mehr als 4 Kinder) - Vierkammerblick - Vorzeitige Wehentätigkeit - Wichtige Befunde – Wirtschaftliche Probleme - Zustand nach 2 oder mehr Fehlgeburten/ Abbrüchen - Zustand nach Frühgeburt - Zustand nach Mangelgeburt - Zustand nach Sectio - Zustand nach Sterilitätsbehandlung.
3. Kontrolle, eher sachlich: Wörter/Satzteile 107
(LH) - (LR) - (NAT) - 11 + 6 - Abdominaler Transversaldurchmesser ATD – Abklärung – Abort – Abruptio – Abusus – Adipositas - Ak-Suchtest - Allergie z. B. gegen Medikamente – Anämie – Anamnese - Andere Besonderheiten 2x - Ante partum - Anti-D-Prophylaxe 2x - Antikörper-Suchtest - Antikörper-Suchtest-Kontrolle 2 x - APD/AU 2x – Apgar - ATD 2 x - Auffällig 2 x - Aufgeführte Untersuchungen - Bakteriol. Befund - Behandlungsbedürftige Allgemeinerkrankungen – Biometrie 3 x - BPD 3 x - Cardiotokografische Befunde - Dauermedikation - Diagnosetest - Direkter Coombstest - Dorsale Hautkontur - Eiweißausscheidung 1 % (entsprechend mg/l oder mehr - Embryo – Entbindungsklinik - Erkennen - EU - Extern entbunden - Fetal - FL 2 x - FOD/KU - FS - Fundusstand - Intrauterin - Geburtsmodus - Gravidogramm - Hb - HB (Eryl) - IE/ml - Jede ärztliche Untersuchung - Jodzufuhr - Jodzufuhr Stillzeit - Konsiliaruntersuchung 2 x - Konsiliaruntersuchung veranlasst - Kontrollbedürftige Befunde 2 x - Kontrolle 4 x - Konzeptionstermin - letzte Periode - LSR - Lunge - Mutter stillt - Nieren - Nitrit - Nukleinsäure-amplifizierendem Test - Ph-Wert - QL - Röteln-Antikörpertest-Kontrolle - I. Screening - II.Screening - III.Screening -Sediment o.B. - Serologisch 2 x - Serum - SL - Sp - SSL - SSS ggf. Korr. - Symph.- Fundusabstand - Thorax - Titer 1, 2 x - Zustand nach anderen Uterusoperationen -Ultraschall-Kontrolluntersuchungen - Variokosis - Vorsorgeuntersuchung 2 x -Wochenbett - ZNS – Zyklus.
4. Weitere Arzt-Informationen Wörter/Satzteile 7
Anlage 1 b - Hansmann - Katalog AB - Merz - Rempen – Wellek Grafik
Bewertung der Ergebnisse
Zusammenfassung: Die Auszählung verdeutlicht, dass der Mutterpass als sachliches ärztliches Überwachungs- und Kontrollinstrument konzipiert ist. Die hohe emotionale Bedeutung, die der Mutterpass für schwangere Frauen hat, ist vermutlich auf die emotionale Berührtheit zurückzuführen, Mutter zu werden. Dafür sprechen auch die vielerorts verwendeten fantasievoll, bunt gestalteten Hüllen für den Mutterpass.
Einzelaspekte
Wirkung von Sprache auf Ärztinnen/Ärzte und schwangere Frauen.
Was für die ärztliche Berufsausübung sachlich und angemessen erscheint, bleibt keinesfalls ohne emotionale Wirkung auf schwangere Frauen. Es muss davon ausgegangen werden, dass die im Mutterpass enthaltene Sichtweise, die Kontrolle, Krankheit und Abweichung im Fokus hat, im Laufe der Schwangerschaft von Frauen passiv übernommen wird. Dies um so mehr, so ist zu vermuten, als unverständliche Begriffe im Internet gesucht werden, Frauen sich damit konfrontieren, ohne über fachliches Hintergrundwissen zu verfügen. Dadurch entfällt die Möglichkeit der Gewichtung einzelner Werte im Mutterpass.
Die Kritik, dass der Mutterpass zur „Pathologisierung" schwangerer Frauen beitrage, findet durch diese Untersuchung Nahrung. Sprache formt das Bewusstsein.
Verunsicherung durch fehlende Transparenz
Es findet sich im Mutterpass kein einziger Hinweis darauf, was Vorsorge ist (Vorsorge, wie sie gleichberechtigt von Hebammen und Ärzten angeboten und durchgeführt wird). Ebenso fehlen Informationen, wie Vorsorge von ärztlichen Zusatzangeboten - IGe-Leistungen und Pränataldiagnostik (PND) - zu unterscheiden ist.
Die Folgen belegt das Ergebnis der Bertelsmannstudie, Gesundheitsmonitor 2015: „Zusatzangebote in der Schwangerschaft: Sichere Rundumversorgung oder Geschäft mit der Unsicherheit?" (Schäfers; Kolip). In ihr wird nachgewiesen, dass 94,1 % der befragten Frauen bei unbelasteter Schwangerschaft der Annahme waren, CTG-Untersuchungen (Ultraschall-Herztonmessung) gehörten zur Vorsorge.
Fehlende Informationen werfen ein Licht auf die Konkurrenz zwischen Hebammen und Ärzten. Darüberhinaus zeigt sich die Geringschätzung der notwendigen Erholungszeit (Wochenbett) nach Geburten.
Die Bezeichnung „Mitbetreuende Hebamme" ist sprachlich verfälschend. Hebammen sind die Expertinnen für physiologische Geburten in der klinischen und außerklinischen Geburtshilfe. Sie können Geburten selbständig betreuen. Für Ärzte besteht die gesetzliche Pflicht der Hinzuziehung einer Hebamme.
So entstehen Informationsdefizite über Hebammen-Kompetenzen und die Wahlmöglichkeiten verschiedener Geburtsorte. Aufgeführt werden nur: „Entbindungsklinik", „Vor Entbindung in Klinik vorgestellt" und „extern entbunden". Kein Wort über Hebammenkreißsäle, ambulante Beleggeburten, Hausgeburten und Geburtshausgeburten, also die Orte, an denen Hebammen ihren Beruf in Selbstständigkeit ausüben.
„Wochenbett" wird zwar erwähnt, jedoch nicht, dass Frauen einen Rechtsanspruch auf Haushaltshilfe haben, wenn familiäre Hilfe nicht möglich ist. Verschreiben müssen Ärzte und Hebammen, darum wäre ein Hinweis im Mutterpass geboten.
Quelle: Mutterpass November 2015
Irene Behrmann
10/2022