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Plazenta – Mutterkuchen

Warum dieses Organ für das Baby so bedeutend ist

Interview 

Lucelia Bratu Portrait






Lucelia Bratu ist Doula und Geburts­vorbereiterin. Sie antwortet auf die Fragen von Irene Behrmann.

Irene: Lucelia, du befasst dich als Doula mit vielen Themen rund um die Geburt. Mich interessiert, wodurch dein Interesse an der Plazenta, auch genannt Mutterkuchen, entstanden ist.

Lucelia: Ich habe in meiner Ausbildung sehr viel Zeit für ein Eigenstudium gehabt und mich in das Thema Plazenta verliebt. Meine KlientInnen und KursteilnehmerInnen müssen schon immer schmunzeln, wenn ich sage „nun zu meinem Lieblingsthema“, denn fast alle wissen dann schon, was ich meine.

Irene: Kannst Du das, was Dich besonders fasziniert, einmal näher erläutern?

Lucelia: DIE PLAZENTA IST EIN ORGAN des Kindes. Sie verkörpert für mich Multitasking per excellence, da sie die komplette Schwangerschaft die „Interessenvertretung“ des Babys übernimmt und somit das Organ für alles ist. Salopp gesagt wie ein organischer WhatsApp-Chat zwischen Mutter und Baby 😉 Es ist das einzige Organ (soweit mir das bekannt ist), das während seiner eigenen Reifung bereits parallel die volle Funktionsfähigkeit entwickeln muss.

Irene: So habe ich das noch nie gesehen. Es klingt tatsächlich nach einem Organ mit komplexen Aufgaben.
Lucelia: Das ist auch noch nicht alles. Spannend im Zusammenhang mit der Plazenta finde ich auch den Begriff „Mikrochimärismus“, was das Überleben fremder Zellen im Körper beschreibt. Demnach wandern während der Schwangerschaft einzelne Zellen in den Blutkreislauf des jeweils anderen. Dies ist bisher noch sehr wenig erforscht, es gibt jedoch Hinweise, dass diese Zellen Schäden reparieren können, indem sie sich in andere z. B. Muskelzellen umwandeln…. Und dies alles trotz der plazentaren Schranke die ja z.B. ein Vermischen des mütterlichen und kindlichen Blutes verhindert. Beide haben ja unterschiedliche Blutgruppen.

Irene: Das scheint vor allem während der Schwangerschaft von Bedeutung zu sein und man weiß darüber noch wenig, sagst Du. Wie sieht es denn nach der Geburt aus? Ist die Plazenta dann noch für irgendetwas wichtig?

Lucelia: O ja, da gibt es einiges. Ich hörte z. B. von erfahrenen „Urgesteinen“ der außerklinischen Geburtshilfe, wie durch die Gabe eines Plazentastücks in die Schleimhäute unter der Zunge, unkontrollierte Blutungen nach der Geburt in Minuten verringert werden konnten. Leider fand ich dazu keine Literatur. Jedoch bin ich selbst Zeugin geworden, wie eine solche Blutung durch diese leichte nichtinvasive Handlung der Hebamme „gestoppt“ werden konnte.
Irene
: Ich habe hin und wieder davon gehört, dass Eltern die Plazenta vergraben und darauf einen Baum pflanzen. Gibt es für solche und vielleicht ähnliche Traditionen eigentlich eine Erklärung?

Plazenta 4Foto: Alex Lichtmalerei
Lucelia: Ja genau, das gibt es. Heute macht man es, da die nährstoffreiche Plazenta als perfekter Dünger dient und das kraftvoll wachsende Bäumchen das Kind symbolisieren soll, das ja ebenfalls kraftvoll wachsen soll.
Die Tradition reicht meiner Nachforschung nach noch viel viel weiter zurück und ist wohl eher auf Nachgeburtsbestattungen zurückzuführen. Hiervon gibt es auch zahlreiche historische Überlieferungen auch aus Deutschland, sowie Plazenta-Urnenfunde. Zu den frühesten Erwähnungen, um die Plazenta zu begraben, gehört wohl die Erwähnung im Talmud, 500 n. Chr.. Ab dem 19. Jahrhundert gibt es Aufzeichnungen über Beobachtungen von Ärzten, Lehrern und Pfarrern, die Sitten und Bräuche dokumentierten. Vielleicht kam der einstige Bruch dieser Bestattungstradition mit der Würzburger Hebammenordnung 1555. Hier hieß es „dass die Hebammen die Bürden, so von den schwangeren Frauen nach der Geburt abgehen, nicht zu sich nehmen und nicht vergraben, sondern in fließendes Wasser werfen sollen“.

Irene: Das ist äußerst interessant, zeigt es auch, wie weit verbreitetes Brauchtum dem Denken der Neuzeit untergeordnet wurde.
Gibt es noch etwas, was Du heutigen Eltern zur Bedeutung der Plazenta und ihrer Verwendung empfiehlst?

Lucelia: Ich finde, wenn man dieses Organ als Teil des Kindes sieht, begegnet man der Plazenta anders. Ob man diese nun eingraben, als Nahrung oder Medizin zu sich nehmen oder als Abdruck zur Erinnerung aufheben möchte, sich Schmuck, Globuli oder anderes daraus herstellt oder sie entsorgt, bleibt jedem selbst überlassen. Es ist wie im Leben, alles sehr individuell. Wichtig ist, sich vor der Geburt mit dem Thema zu befassen, damit man bei der Geburt nicht überrumpelt ist. Denn die Frage, ob man die Plazenta sehen möchte oder mitnehmen, wird kommen!

Irene: Vielen Dank für dieses Gespräch.

04/2023

 

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